Gretchenfrage

tempx_wf_goethe_faust_gEr ist ein weiser alter Herr, der Doktor Faust aus Goethes gleichnamigem Drama. Er sagt so vielzitierte Dinge wie „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“ oder „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“ Berühmt wurde auch, was Faust auf die Frage von Gretchen antwortet, einer jungen Dienstmagd, die er unbedingt für sich gewinnen will. Sie fragt: „Nun sag, wie hast Du’s mit der Religion?“ Und fügt hinzu: „Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.“

Die Gretchenfrage gilt seit Goethe als die Schlüsselfrage nach der Wahrheit, die man jemandem stellt, um herauszubekommen, wen man wirklich vor sich hat. Bei Gretchen dürfen wir annehmen, dass ihr die Religion wichtig ist. Deshalb fragt sie auch, woran Faust in seinem Innersten glaubt. Der aber distanziert sich von aller Religion und schliesst als Ausdruck seiner Skepsis einen Pakt mit dem Teufel.

In Zeiten religiöser Pluralität gilt die Religionsfreiheit als neue Gretchenfrage. Wenn sich etwa manche Strömungen des Islam mit den liberalen Grundsätzen des modernen Verfassungsstaats schwertun, wird ebenso ihr Bekenntnis zur Religionsfreiheit verlangt wie von den christlichen Kirchen, die sich fragen lassen müssen, ob sie in den eigenen Reihen grundlegende Menschenrechte einhalten oder nicht.

Gretchen das Fragen nicht geholfen. Sie wird enttäuscht und ruft dem Faust noch zu „Heinrich, mir graut vor Dir!“ – Dass wir das in Bezug auf die Religionsfreiheit nicht sagen müssen, ist Aufgabe und Verantwortung von uns allen.