Alle Beiträge von René Ochsenbein

Brockenhaus

Kürzlich bei einem Rundgang durch eines der Brockenhäuser meiner Stadt: In der Ecke, wo sich das Geschirr türmt, da entdeckte ich eine Tasse. Nicht irgendeine Tasse. Algengrün war sie und durch den Brennvorgang wies sie ein eigentümliches braunes Fleckenmuster auf. Sie ist ein Stück des ersten Tafelgeschirrs meiner Kindheit.

Längstens ist davon der letzte Suppenteller zerschlagen oder entsorgt worden, und so weckte die Tasse im Brockenhaus viele Erinnerungen. Ich konnte nicht wiederstehen und kaufte die Tasse für 4 Fr.

Brockenhäuser sind Fundgruben, es sind die Einkaufszentren für die, mit kleinen Budgets, es sind Orte für nostalgische Momente.

Brockenhäuser gibt es noch gar nicht so lange. Erst mit dem Beginn der industriellen Revolution, dem Beginn der Überproduktion und der ansteigenden Armut in den Städten entstand die Idee der Brockenhäuser.

1872 eröffnete der deutsche Pastor Friedrich von Bodelschwingh eine Anstalt für «Fallsüchtige» und betrieb dort zugleich eine Sammelstelle für Gebrauchtwaren, die günstig weiterverkauft wurden. Diese Sammelstelle nannte er Brockenhaus.

Pastor Bodelschwingh knüpfte dabei an ein biblisches Motiv an. Gleich an mehreren Stellen im Neuen Testament berichten die Evangelien von der wundersamen Speisung. Jesus segnet eine Handvoll Brote und Fische und lässt diese unter Tausenden verteilen. Als sich alle satt gegessen hatten, die übriggebliebenen Brocken eingesammelt wurden, füllten sich mehrere Körbe mit den Essens-Brocken. (Mk 6, 35–44; Mk 8, 1–9; Mt 15, 32–38; Mt 14, 13–21; Lk 9, 10–17; Joh 6, 1–13)

Auch heute lässt sich beim Schlendern durch das Brockenhaus so mancher Korb füllen oder man findet eben nur eine Tasse – diese jedoch randvoll mit Erinnerungen.

Antisemitismus

Ein Zugabteil, darin zwei Nonnen und ein junger Mann. Die ältere der beiden Nonnen fragt den Fremden verwundert, ob dieser etwa eine jüdische Zeitung lese. „Ja ich bin Jude und ich werde nach Jerusalem gehen, um dort unter Juden zu leben“ – antwortet der Fremde. Nach längerem Schweigen bricht es aus der jüngeren Nonne heraus, den Tränen nahe: „Jesus war so gütig, wie konntet ihr ihm das antun?“ Worauf der Jude antwortet: „Wissen Sie, junge Dame, ich war nicht dabei, als es geschah. Ich hatte an diesem Morgen einen Zahnarzttermin.“

Diese Szene erzählt der jüdische Schriftsteller Amos Oz so in seinem Roman Judas. Antisemitische Klischees und Haltungen, wie jene der Nonne, die mit ihrer Frage pauschal jeden Juden zum Mitverantwortlichen am Tod Jesu macht, sind bis heute weit verbreitet.

Der im 19. Jahrhundert entstandene Begriff Antisemitismus wird heute als Sammelbegriff für alle ideologisch und rassistisch begründeten Formen von Judenfeindschaft verwendet. Seine Voraussetzungen hat er im christlichen Antijudaismus der Antike. Die Tatsache, dass die jüdische Religion Jesus nie als Messias und Sohn Gottes anerkannte, führte spätestens seit dem Mittelalter zu tendenziösen Darstellungen von Juden in der christlichen Kunst und im Theater. Erst 1965 hat sich das Zweite Vatikanische Konzil in der Erklärung „Nostra Aetate“ für die antisemitischen Phasen in der Geschichte des Christentums entschuldigt.

Die jüdische Philosophin Hannah Arendt schrieb im Jahr 1941:

Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Mond sicher.

Der christliche Judenhass wurde in der antisemitischen Ideologie des Nazi-Regimes auf die Spitze getrieben. Hannah Arendt wies darauf hin, dass man vor Ideologien nirgends sicher ist. Selbst wenn man zum besagten Zeitpunkt einen Zahnarzt Termin hatte.

Jubiläum

Wenn mir heute jemand sagt „Du kommst ja auch nur alle Jubeljahre einmal…!“, dann weiß ich, dass ich in seiner Wahrnehmung öfter kommen sollte.

Am Weihnachtsfest des Jahres 1300 rief Papst Bonifatius VIII. zum ersten Mal ein annus iubilaeus, ein Jubeljahr, aus. Der Papst gewährte in diesem kalendarisch besonderen Jahr den Rompilgern einen vollständigen Ablass – damit gemeint: die Vergebung aller Sünden.

Das Jubeljahr hat seinen Ursprung im antiken Judentum. Im Alten Testament findet sich im Buch Levitikus ein Gesetzestext, nach dem alle 7×7 Jahre das 50. Jahr ein יוֹבֵ֥ל (jobel) Jahr zu sein hat. Das Wort jobel, von dem sich dann das lateinische Wort jubilaeus ableitet, bedeutet Widder. Es ist vermutlich eine Anspielung auf das Widder-Horn – ein Instrument, mit dessen Erschallen das jüdische Jobel-Jahr beginnt.

Gemäss der Bibel kam es für alle Bewohner des Landes in diesem Jahr zur Freilassung der Sklaven; zur Erlassung der Schulden; und zur Rückgabe von Landbesitz an die ursprünglichen Besitzer. Anders als bei Papst Bonifatius ging es ursprünglich beim jobel-Jahr weniger um moralische Schuld als vielmehr um wirtschaftliche Schulden. Da nach jüdischem Verständnis das Land letztlich immer nur Gott gehört, drückte das Jobeljahr die Hoffnung aus, dass der Gott Israels ein Barmherziger Gott ist. Ein Gott, der jedem Menschen – unabhängig jeglicher Schuld – nach 7×7 Jahren neu anfangen lässt.

Sollte mir mein Freund wieder einmal vorwerfen, ich käme ja nur „alle Jubeljahre einmal“, wird er sehen, dass er masslos übertreibt. Denn 50 Jahre vergehen sicher nicht, bis ich ihn wieder besuche.

Gretchenfrage

MARGARETE.
Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?
Du bist ein herzlich guter Mann,
Allein ich glaub‘, du hältst nicht viel davon.

Mit dieser Frage überrumpelt in Goethes Faust die Margarete – Gretchen genannt – ihren Geliebten den Heinrich Faust.

Als Goethe 1808 den Faust veröffentlichte, sind die grossen Konfessionskriege Geschichte. Die Aufklärung und die immer lauter werdenden Religionskritiker brechen mit alten Denkmustern. Goethes Faust ist bereits ein Kind dieser Moderne. Nicht von einem Gott, auch nicht von einer Konfession, ja nicht einmal von einer Kirche erzählt Faust der Margarete. Im Gegenteil, er drückt sich um eine Antwort:

FAUST.
Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut;
Für meine Lieben ließ‘ ich Leib und Blut,
Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.

Faust will das Thema schnellst möglich wieder vom Tisch haben. In einer modernen Fassung könnte seine Antwort auf Gretchens-Frage lauten: Lassen wir das Thema. Über Religion spricht man nicht.

Heute versteht man unter einer Gretchenfrage, jemanden mit einer Frage in einer Sache zu einem Bekenntnis zu bringen, zum Ausdruck seiner Meinung in einem Thema zu drängen. In der Regel handelt es sich dabei um heikle, weil intime – aber gleichwohl um bedeutende Fragen.

In Zeiten von Tinder und ähnlichen Dating-Apps rücken die Gretchenfragen wieder stärker in den Fokus der von Goethe angedachten Alltagssituation:
Nun sag, wie hast du’s mit Geld, Treue und Gott? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub‘, du hältst nicht viel davon…

Tret-Bilder

«Tret-Bilder» – Bilder auf die man tritt.
Von der christlichen Missionierungsgeschichte in Japan – einer gescheiterten Mission – davon erzählen die Tret-Bilder.

1549 kommt mit dem Jesuiten Franz Xaver das Christentum in den fernen Osten. 30 Jahre nach seiner Ankunft in Japan zählt die christliche Gemeinschaft auf der Insel bereits 150’000 Anhänger. Das Christentum gewinnt an Einfluss in der Gesellschaft und am Hof des Kaisers.

Doch bereits 1614 – nur 65 Jahre nach der Ankunft von Franz Xaver – wird das Christentum kurzerhand verboten. Im Erlass steht zu lesen: «Das Christentum ist der Keim einer grossen Katastrophe und muss zerquetscht werden.»

Es beginnt die Vertreibung der christlichen Patres aus Japan. Wer zurück bleibt und dem Glauben nicht abschwört, setzt sich der Gefahr der Folter und einem grausamen Tod aus.

„fumie“ – Tret-Bild

Um die Menschen in den Dörfern zu überprüfen oder um sie vom Christentum abzubringen, reisen Beamte des japanischen Hofes durch das Land und fordern die Menschen auf, mit den Füssen auf Heiligenbilder zu treten – auf sogenannte «fumie» zu Deutsch: «Tret–Bilder». Die Bronzentafeln zeigten Darstellungen von Jesus am Kreuz oder Maria mit Kind – ikonische Darstellungen also, die den Christen heilig sind.

In Japan spielt das Christentum heute kaum mehr eine Rolle. Dass die Geschichte einmal anders geplant war, erzählen die Bronzetafeln, die heute noch im Museum in Tokio zu finden sind – platt getreten und blank poliert von Tausenden von Füssen.

Apologet

„Die Christen aber, o Kaiser, haben suchend die Wahrheit gefunden und stehen (…) der Wahrheit und der Erkenntnis näher als die übrigen Völker. Sie kennen Gott und glauben an ihn als den Schöpfer und Werkmeister des Alls. (…) Sie treiben nicht Ehebruch und Unzucht, legen kein falsches Zeugnis ab, (…) erweisen ihrem Nächsten Gutes (…) und was sie nicht wollen, dass ihnen andere tun, das tun sie auch niemandem.“

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Mit diesen Worten verteidigt im 2. Jahrhundert der Christ Aristides von Athen in seiner Schrift apologeticum das Christentum. Er tut dies gegen Vorwürfe, die der heidnische Kaiser Hadrian an die Christen heranträgt.

Die frühen Christen gehören in der heidnischen Gesellschaft zu einer Sondergruppe. Sie wirken geheimnisvoll auf die Menschen der damaligen Zeit. Viele Mythen ranken sich um diese jüdische Sekte, deren Anhänger im Tempel keine Opfer darbringen, keinen Militärdienst leisten und nur einen Gott auf geheimnisvolle Weise anbeten. So müssen sich die christlichen Schriftsteller gegen Vorwürfe wie Verrat am Römischen Reich oder gar Kannibalismus zur Wehr setzen und dies tun sie oft in ausführlichen Verteidigungsschriften.
Die Apologie – was vom griechischen ἀπολογία kommt und mit Verteidigungsrede übersetzt wird – ist ein rhetorisches und literarisches Stilmittel, das bereits auf Platon zurückgeht. Nach Platon ist die Apologie der terminus technicus für die argumentative Verteidigungsrede von philosophischen und religiösen Überzeugungen.

Aristides reiht sich gemeinsam mit berühmten antiken Theologen wie Origenes oder Augustinus unter die Apologeten ein, die sich mit rhetorischer Scharfzüngigkeit und mit der Tinte ihrer Feder argumentativ gegen äussere Angriffe stemmen. Aristides treibt übrigens seine Glaubensüberzeugung mit der Aussage auf die Spitze: „Ich hege keinen Zweifel, dass nur durch das flehentliche Gebet der Christen die Welt noch fortbesteht.“

Tohuwabohu

Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn sie das Wort Tohuwabohu hören? Nun, mich erinnert es an meine Kindheit, und zwar an die Rumpelkammer im Haus meiner Grossmutter, in der ein heilloses Durcheinander herrschte.

tohuDer Begriff Tohuwabohu wird heute meistens als Synonym für ein Wirrwarr, Durcheinander oder Chaos verwendet. Eigentlich ist Tohuwabohu hebräisch und besteht aus zwei Worten: Nämlich tohu, was mit ‚Wüste‘ und wavohu, was als ‚Einöde‘ übersetzt werden kann. Berühmt ist die Redewendung, weil sie gleich zu Beginn der Bibel steht. Am ersten Tag erschafft Gott die Erde und den Himmel, doch die Erde ist noch tohu wabohu. So denken sich die biblischen Autoren die Welt vor ihrer Vollendung durch Gott: als ein ödes und verwüstetes Land, ohne jegliches Leben.

Dieselbe Wortkombination findet sich im Alten Testament nur noch an einer Stelle. Sie steht in einer Vision des Propheten Jeremia und schildert den Zustand eines Landes nach einem Krieg. Jeremia beschreibt die Erde als Tohuwabohu: Am Himmel sieht er kein Licht und keine Vögel mehr, die Städte sind zerstört und das Land ist verwüstet.

Es erhellte stets nur wenig Licht die Rumpelkammer meiner Grossmutter, in der sich Erinnerungen an ein halbes Jahrhundert Familiengeschichte mit nicht weniger als zehn Kindern auftürmten. Doch es sah in ihr nicht ganz so schlimm aus, wie man sich die Welt vor dem ersten Schöpfungstag vorstellt. Es war natürlich ein chaotisches Tohuwabohu, aber doch sehr spannend und geheimnisvoll.